Dauer-Krisenmodus

Die Kabelbaum-Krise hält an

Dauer-Krisenmodus: Die Kabelbaum-Krise hält an
Erstellt am 20. Mai 2022

Der Krieg in der Ukraine legt die Fertigung der Kabelbäume fast still und stürzt die Automobilhersteller nach der Halbleiterkrise in das nächste Dilemma. VW installiert einen Krisenstab und dupliziert die Produktion in Marokko und will die volatilen Lieferketten in Zukunft krisenfest bekommen.

Momentan sind die Automobilmanager nicht zu beneiden. Dass die Zeiten, zu denen man sich im Scheinwerferlicht der eigenen Produkte sonnt, vorbei sind, ist klar. Aktuell operieren die Konzernzentralen zwischen Wolfsburg und Stuttgart im Dauer-Krisenmodus. Kaum schimmert ein Licht am Ende des COVID-19-Pandemie-Tunnels, trifft der nächste Nackenschlag die Automobilindustrie. In der Ukraine tobt ein Krieg und legt die Produktion der Kabelbäume weitgehend still. Die Covid-19-Pandemie, der Halbleitermangel und jetzt der Krieg in der Ukraine richten enormen Schaden an, mit einem Rückgang der Fahrzeugproduktion um 8 Prozent von 90,3 Millionen Einheiten im Jahr 2019 auf 83 Millionen im Jahr 2021. Dieser Trend wird leider im Jahr 2022 weitergehen und sich gegebenenfalls noch verschärfen“, beschreibt Dr. Ralf Walker von der Berylls Group die Situation.

Zu anfällige Lieferketten

Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen. Um die Produktion und damit die Geschäfte einigermaßen am Laufen zu halten, praktizieren Volkswagen, Mercedes und Co. einen knallharten Kabelbaum-Darwinismus. Die Autos, die am meisten Geld in die Kasse spülen, wandern in der Fertigungshierachie nach oben „Für alle Kabelbaumlieferanten wird aktuell genau priorisiert, welche Kabelbäume in welcher Menge absolute Priorität haben. Beispielsweise sind die Kabelbäume für die Hochvoltspeicher und BEV-Fahrzeuge im hochpreisigen Segment höher priorisiert als ein Kabelbaum für ein Mittelklasse-Verbrennungsfahrzeug“, erklärt Ralf Walker. Auch wenn der Ausfall der ukrainischen Kabelbaum-Produktion hauptsächlich die europäische Modellpalette betrifft, zeigt er doch, wie anfällig die Lieferketten sind.

Das bedeutet: Langfristige Strategien müssen her, die die Zusammenarbeit zwischen Zulieferern und Herstellern robuster gestalten. „Für unterschiedliche Rohstoffe und Zulieferprodukte wird auch über komplett veränderte Lieferketten nachgedacht. Der Gesichtspunkt „lokal für lokal“ rückt viel mehr in den Vordergrund. Wenn in China erneut eine Region für ein paar Wochen in den Lockdown geht, sollten die Werke der Zulieferer primär Werke der OEM in der Umgebung oder diesem Land beliefern und nicht Kunden in Europa oder den USA“, weiß Ralf Walker. Mercedes dreht bereits an Stellschrauben und will in Zukunft mit den Zulieferern konkretere Vereinbarungen zu Lieferabnahmen treffen. Außerdem setzt man auf verlängerte Planungszyklen auf den Aufbau von Sicherheitsbeständen an verschiedenen Stellen der Lieferkette und auf multiple Bezugsquellen, damit die Auswirkungen beim Ausfall eines Produktionsstandortes nicht so gravierend sind.

BMW sieht keinen großartigen Handlungsbedarf: „Unsere Sourcing-Strategie hat sich bewährt, vor allem auch in Krisensituationen wie den harten Lockdown-Zeiten aufgrund von Corona und auch bei den Halbleitern. Wir beziehen wichtige Komponenten wie zum Beispiel Kabelbäume schon immer aus mehreren Ländern, zum Teil auch aus der Ukraine. In der Folge sind nur wenige BMW Group Werke unseres Produktionsnetzwerks von den Auswirkungen betroffen gewesen“, heißt es aus München.

Krisenstab bei VW

VW hat einen Krisenstab ins Leben gerufen, um die Auswirkungen der Produktionsausfälle bei den Kabelbäumen abzufedern. Kurzfristig sind Standorte in Osteuropa, Nordafrika und auch in Übersee in die Bresche gesprungen. „Wir müssen diese Herausforderungen als Gelegenheit betrachten, aus der Krise zu lernen. Die jetzige Situation analysieren, Maßnahmen ergreifen, nach vorne schauen, mit unseren Partnern Dialoge führen, unsere Netzwerke dementsprechend ausbauen, strategische Partnerschaften abschließen, um auch langfristig die Versorgungsabsicherung zu gewährleisten“, erklärt Skoda-Beschaffungs-Vorstand Karsten Schnake.

Der Volkswagen-Konzern setzt dabei auf eine duale Strategie. Das bedeutet, dass die Handarbeitsfertigungslinien aus der Ukraine an anderen Orten dupliziert, „aber eben nicht verlagert werden“, wie ein Sprecher des Wolfsburger Konzerns betont. Für diese Maßnahme haben die Niedersachsen 14 mögliche Länder und dort bereits 23 Standorte für eine Duplizierung von Produktionskapazitäten identifiziert, um so die Ausfälle zu minimieren. Eines dieser Werke befindet sich im Rabat (Marokko), wo Kromberg und Schubert die Fertigung der Kabelbäume ausgebaut hat und so die Ausfälle der Fabrik im ukrainischen Zhytomyr teilweise kompensiert.

Im Hauptsitz des tschechischen Herstellers in Mlada Boleslav hat der Zulieferer PEKM kurzerhand eine Halle angemietet und Angestellten aus der ursprünglichen Fabrik im ukrainischen Lwiw das Angebot unterbreitet, bei der Produktion zu helfen. Einige haben die Gelegenheit ergriffen und stellen jetzt Kabelbäume in Handarbeit her. Die Produktion soll sukzessive ausgebaut werden. Waren es vor der Krise bis zu 40.000 Kabelbäume pro Tag, sind es jetzt maximal 900. Wenn alles optimal läuft, werden beide Standorte pro Kabelbäume für 1.870 Fahrzeuge pro Woche produzieren. „Eine ähnliche Vorgehensweise – Duplizierung der Produktion von kritischen Teilen – prüfen wir quer durch unser Lieferantenportfolio und bieten unseren Partnern Unterstützung bei diesem Prozess an. Die realisierten Projekte in der Ukraine und Nordafrika dienen dabei als Blaupause“, ordnet Karsten Schnake die Maßnahmen ein. Die Ukraine- und die Halbleiterkrise haben schonungslos offengelegt, wie volatil die Lieferketten sind. Um derart gravierende Einbrüche bei der Fertigung in Zukunft zu verhindern, müssen jetzt die richtigen Schlüsse gezogen werden.

Wolfgang Gomoll; press-inform

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