Wenn ein Autohersteller in die Formel 1 einsteigt, gehört Sieger-Rhetorik zum guten Ton. Mercedes, Ferrari, Red Bull – alle traten an, um sofort zu gewinnen. Audi macht es 2026 anders. Vorstandschef Gernot Döllner sagt offen: "Ab 2030 wollen wir um die Weltmeisterschaft kämpfen." Vier Jahre Anlaufzeit. Öffentlich kommuniziert. Das gab es so noch nie.
Die Frage ist: Ist das Ehrlichkeit oder Ausrede?
Warum Audi sich vier Jahre Zeit gibt
Döllner begründet den Plan nüchtern: "Ein Top-Team wird man in der Formel 1 nicht über Nacht." Und er hat Recht. Die Formel 1 ist heute ein technologisches Wettrüsten, bei dem selbst kleine Fehler jahrelang nachwirken. Seit 2022 gibt es eine strikte Budgetobergrenze. Wer daneben entwickelt, kann nicht einfach mehr Geld in die Entwicklung pumpen. Die Kehrseite: Wessen Auto 2026 nicht der große Wurf ist, bleibt zurück.
Genau hier liegt Audis Problem. 2026 tritt ein komplett neues technisches Reglement in Kraft. Der elektrische Antriebsteil wird von bisher 120 Kilowatt auf 350 Kilowatt erhöht. Fast dreimal so viel E-Power. Das verändert alles: Energiemanagement, Batterie-Technologie, Aerodynamik, Gewichtsverteilung. Und Audi hat bis zu den ersten Tests im Januar 2026 keinen fahrenden Rennwagen. Das Reglement verbietet es.
Cheftechniker Stephan Dreyer gibt offen zu: "Wir haben keinerlei Vergleichsmöglichkeiten und auch keinen Einblick in den Ferrari-Motor, mit dem Sauber bislang unterwegs ist." Audi fliegt blind ins Rennen. Die Konkurrenz hat Erfahrungswerte. Audi hat 34 Prüfstände, KI-Simulationen und Hoffnung.
Die Erfolgsgeschichte als Druck
Audi hat eine beeindruckende Motorsport-Historie. Rallyesport, DTM, 24 Stunden von Le Mans, Sportwagen-WM, Rallye Dakar – überall wurde Audi Meister. Einzig in der US-amerikanischen IMSA-Serie Ende der 1980er-Jahre klappte es trotz vieler Siege nicht ganz. Diese Historie ist Motivation und Last zugleich. Die Firmenkultur kennt nur Gewinnen. Die Formel 1 könnte die erste echte Niederlage werden.
Vielleicht ist genau das der Grund für den ehrlichen Vier-Jahres-Plan. Döllner will realistischen Erwartungsdruck. Intern und extern. Denn die Formel 1 ist härter als alles, was Audi bisher gemacht hat.
Das Dream-Team: Binotto und Wheatley
Audi hat sich für den Einstieg zwei Schwergewichte geholt. Mattia Binotto, ehemaliger Ferrari-Teamchef, kennt die Politik und den Druck bei einem Top-Team. Jonathan Wheatley kommt von Red Bull, dem erfolgreichsten Team der letzten Jahre. Beide wissen: In der Formel 1 entscheiden Details über Sieg oder Niederlage.
Für Binotto ist das Audi-Projekt "das spannendste Projekt im Motorsport, wenn nicht sogar im gesamten Sportbereich." Das klingt nach Marketing-Sprech, hat aber einen wahren Kern. Audi baut gerade eine komplette Formel-1-Abteilung von null auf. Schnelle Entscheidungen, flache Hierarchien, moderne Prozesse. Dreyer schwärmt: "Der Aufbau ging rasend schnell voran."
Warum Audi überhaupt einsteigt
Die Formel 1 ist heute ein globales Medienereignis. 1,6 Milliarden Menschen haben 2024 weltweit die Rennen im Fernsehen verfolgt. Die meisten Rennen sind ausverkauft. Die Netflix-Serie "Drive to Survive" hat die Formel 1 einer jüngeren Zielgruppe nähergebracht. Luxusmarken wie LVMH und Consumer-Giganten wie Disney und Lego drängen in die Formel 1.
Finanzchef Jürgen Rittersberger wird konkret: "Mit der enormen Reichweite der Formel 1 haben wir die Chance, neue Kunden für unsere Marke zu gewinnen – insbesondere in der jüngeren Zielgruppe." Die Formel 1 ist für Audi eine Bühne für die globale Markentransformation. Döllner spricht von der "Neuaufstellung des Unternehmens" und der "Stärkung im globalen Wettbewerb."
Design als Statement
Audi will auch optisch auffallen. Kreativchef Massimo Frascella erklärt: "Wir wollen das markanteste Auto auf der Rennstrecke haben. Und abseits davon wollen wir die mutigste Marke sein." Audi führt mit dem Formel-1-Einstieg ein neues, einheitliches Designsystem ein, das alle Unternehmensbereiche vereint. Der Auftritt soll Mut und Modernität ausstrahlen.
Alles oder nichts
Döllner fasst die Strategie in einem Satz zusammen: "In der Formel 1 gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man lässt es oder man macht es – dann aber richtig." Audi hat sich für richtig entschieden. Mit einem realistischen Zeitplan, einem starken Team und der vollen Unterstützung des Konzerns.
Ob der Plan aufgeht, zeigt sich ab 2026. Und spätestens 2030 wissen wir, ob Audis Ehrlichkeit sich ausgezahlt hat. Oder ob der Vier-Jahres-Plan nur eine elegante Art war, die Erwartungen zu dämpfen. Die Formel 1 verzeiht keine Fehler. Audi wird das bald lernen. So oder so.
Mehr zur technischen Seite der neuen Power Units findest du bei der FIA.


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