Die Frühtage des Motorsports

Von tollkühnen Männern in ihren rollenden Kisten

Die Frühtage des Motorsports: Von tollkühnen Männern in ihren rollenden Kisten
Erstellt am 4. Juli 2022

Seitdem es Automobile gibt, treten Menschen damit gegeneinander oder die Uhr an. In den Frühtagen automobiler Fortbewegung hatte das jedoch einen völlig anderen Charakter als alles, was wir heute kennen.

Motorsport ist längst eine eigene Industrie. Ganze Abteilungen bei Fahrzeugherstellern befassen sich damit. Dazu freie Entwickler und die Rennteams selbst – von den Zubehörfirmen ganz zu schweigen. Die festen Strecken stellen in ihrer Region einen gigantischen Wirtschaftsfaktor dar, selbst temporäre Routen sind aufgrund des Umsatzaufkommens äußerst wichtig. Es gibt zwischen Merchandise und Sportwetten eine nicht minder große Spanne von Unternehmungen, die ebenfalls auf den Motorsport angewiesen sind – und die im Falle der Wetten sogar eine eigene Fachsprache mit festliegenden Begriffen entwickeln konnte. Zu diesem sowieso schon gigantischen System muss natürlich noch die Werbung hinzugerechnet werden. Ohne deren Gelder wäre der Motorsport sicherlich nicht so ausgefeilt, wie er es heute ist.

Doch stellen wir uns eine Zeit vor, in der das alles schlicht und ergreifend noch nicht existierte. Eine Zeit, in der Automobile eine teure Seltenheit waren und diejenigen, die sie nicht nur fahren, sondern wettbewerbsmäßig lenken konnten, noch seltener. Das waren die Frühtage des Motorsports. Eine einzigartige, kurze und aus heutiger Sicht haarsträubend risikoreiche Epoche.

Was war zuerst da: Auto oder Autorennen?

Wann wurde eigentlich das Automobil erfunden? Strenggenommen gibt es dafür mehrere Daten:

1769, als in Frankreich der erste Dampftraktor entwickelt wurde.

1801, als ein englischer Dampfwagen („Puffing Devil“) erstmals fuhr.

1839, als in Schottland das erste Elektroauto fuhr.

Zumindest, was den Verbrennungsmotor als bis heute wichtigsten Antrieb anbelangt, gilt jedoch 1886 als Zeitwende. Das Jahr, in dem der Benz Patent-Motorwagen Nummer 1 vorgestellt und – erstmals für ein Automobil – vor allem in Serie produziert wurde.

Manche wird allerdings eines überraschen: Das weltweit erste Automobilrennen fand schon acht Jahre vor der Erfindung des Carl Benz statt.

Ein feuriger Wettbewerb in Wisconsin (1878)

Den US-Staat Wisconsin kennt man sicherlich nicht gerade für Motorsport. Was jedoch dessen Frühtage anbelangt, hat der Staat dieselbe Bedeutung wie der Strand von Kitty Hawk für die Fliegerei – den eines Erstlingsschauplatzes.

1878 schrieb der Staat Wisconsin einen Wettbewerb aus: 10.000 Dollar* sollte derjenige gewinnen, der einen dampfbetriebenen Ersatz für Zugtiere erfand und dessen Tauglichkeit demonstrieren konnte. (*Inflationsbereinigt wären das heute knapp 300.000 Dollar.)

Zwei Fahrzeuge gingen an den Start:

Der Oshkosh Steam Wagon mit 4,5 Tonnen Gewicht, je einem Vor- und Rückwärtsgang und 16 Kilometern Reichweite.

Der Green Bay Steamer mit 6,5 Tonnen Gewicht, drei Vor- und einem Rückwärtsgang und 18 Kilometern Reichweite.

Beide Fahrzeuge waren von enthusiastischen Privatmännern gebaut worden. Sie traten im Juli zu einem für damalige Verhältnisse extrem herausfordernden Rennen an: 325 Kilometer mussten zwischen den Städten Green Bay und Madison zurückgelegt werden.

Der Green Bay Steamer hatte dabei anfänglich die Nase vorn. Er war zwar schwerer, konnte aber durch die drei Gänge schneller fahren und kam zudem weiter, bevor Wasser und Brennstoff nachgefüllt werden mussten. Dennoch unterlag der „Dampfer“ dem Oshkosh-Konkurrenten – der Green Bay Steamer rutschte in einen Straßengraben. Die Reparaturen dauerten so lange, dass der Oshkosh Steam Wagon mit deutlicher Führung ins Ziel kam.

Ein Röhren in Frankreich (1894)

Manchem mag das Rennen der beiden Dampfkolosse nicht sonderlich temporeich anmuten. Allerdings darf man hier nicht vergessen, in welchen Zeiträumen wir uns bewegen. Das Automobil war vollkommen experimentell und so kostspielig, dass es hauptsächlich ein Spielzeug für die damalige High Society war – das blieb es letztlich bis 1908, als das Ford T-Modell vorgestellt wurde. Keine Straße war wirklich zum schnellen Fahren ausgelegt, sondern für Pferde und Kutschen. Tatsächlich war bis in die 1900er nicht einmal klar, welcher Antrieb sich durchsetzen würde.

Das nächste wichtige Ereignis auf dem Zeitstrahl zeigt dies in schöner Deutlichkeit: am 22. Juli 1894 lud der französische Chefredakteur des „Petit Journal“, Pierre Giffard, nach Paris. Er lobte 5.000 Francs für ein möglichst gesittetes Rennen von Paris nach Rouen aus – mit dem Bewerben der Automobilität als wichtigstem Grund. Das war bitter nötig, denn viele gutbetuchte Nutzer waren in einer Zeit ohne Führerschein und jegliche Verkehrsregeln eher ein Schreckgespenst für den restlichen Verkehr. So jung das Auto noch war, es hatte bereits einen ziemlich schlechten Ruf.

Der sollte an besagtem Julitag verbessert werden. Mehr als 100 Fahrzeuge aus vier Ländern kamen zusammen. Auf den modernen Betrachter hätte dies allerdings eher wie ein Kuriositätentreffen gewirkt.

Federantriebe, verschiedene Verbrennungsmotoren mit unterschiedlichsten Kraftstoffen, Dampfantriebe sowie verschiedene Antriebe zwischen Schwerkraft und Pendeln stellten die Kraft bereit. Nicht weniger bunt waren die Karosserieformen: Zwischen Traktor, Bus und Dreirad war alles vertreten.

Klar, dass von dieser Ansammlung nur die wenigsten die 126 Kilometer in der vorgegebenen Maximalzeit von zwölf Stunden bewältigen konnten. 17 Stück allerdings schafften es. Die vier Bestplatzierten unterhalb des dampfbetrieben fahrenden Grafen de Dion waren allesamt benzinbetriebene Lizenzbauten des Benz-Motorwagens – wodurch ein ziemlich deutliches Statement für den Verbrennungsmotor gesetzt wurde. Summa Summarum wurden damals Durchschnittsgeschwindigkeiten von maximal 19 km/h erreicht.

Eine Explosion der Geschwindigkeiten (1906)

In jenen Jahren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren die allermeisten Rennen davon geprägt, entweder große Überland-Kreisfahrten oder Rennen mit unterschiedlichem Start- und Zielort zu sein.

Allerdings hatten Automobile binnen kurzer Zeit sehr große Leistungssprünge gemacht. Fahrwerks- und Bremsentechnik hielten nicht mit, sodass der Motorsport bald seine ersten Opfer zu beklagen hatte – etwa 1903, als der französische Autopionier Marcel Renault bei einem Rennen von Paris nach Madrid tödlich verunglückte.

Generell etablierten sich deshalb zu diesem Zeitpunkt die ersten Rundkurse, die mehrfach zu umfahren waren. Der bis heute sicherlich prominenteste davon ist der im französischen Le Mans. Hier fand 1906 der erste echte Grand Prix der Motorsportgeschichte statt. Aufgrund der rasanten Automobilentwicklung gab es sogar schon ein Reglement: Die Fahrzeuge durften maximal 1.000 Kilogramm wiegen (mutmaßlich eine Maßnahme, um Dampffahrzeuge zu verhindern), eine Hubraumbegrenzung gab es nicht.

An dieser Stelle sei auf jene 19 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit beim Rennen 1894 verwiesen: Nur zwölf Jahre später lag der Schnitt in Le Mans bei 101 km/h, ein Renault erreichte auf der Start-Ziel-Geraden sogar 148 km/h. Ohne Gurte, ohne Fenster, mit schlecht gefederten Fahrwerken und Bremsen, die von den Geschwindigkeiten völlig überfordert waren.

Unter derartigen Vorzeichen startete nur ein Jahr später ein Rennen, das selbst mit heutigen Rennwagen eine Tortur für Mensch und Material wäre. Damals jedoch ein motorsportlicher Rekord ohnegleichen.

Ein Kampf des Willens und des Materials (1907)

So gesehen waren die meisten damaligen Autorennen Rallyes, schon weil Straßen mit fester Decke eine Seltenheit waren – das damalige Mittel der Wahl außerhalb großer Städte war Schotter.

Wenn allerdings ein Rennen der damaligen Zeit den Titel „Knochentour“ verdient, dann ein Rennen, das 1907 stattfand. Und zwar nicht kürzer als von Peking nach Paris.

Nicht nur lagen dazwischen fast ausschließlich Trampelpfade. Viele Gegenden waren überdies kaum kartographiert. Und der Treibstoff musste von Peking lange im Vorfeld mit Kamelkarawanen zu festgelegten Zwischenstationen gebracht werden.

Schon das Rennen selbst zeigt die Tollkühnheit vieler damaliger Automobilisten. Wie sehr Autorennen jedoch damals als ritterliches Gentlemen-Event angesehen wurden, zeigt das Preisgeld: Wer als erster in Paris eintraf, bekam eine Magnumflasche Champagner und die Ehre – sonst nichts.

Eigentlich kam das Rennen nicht einmal offiziell zustande: Von den 40 Teilnehmern gelang es in Zeiten der ebenfalls erst aufkeimenden Übersee-Motorschifffahrt gerade einmal fünf, zum verabredeten Termin in Peking zu sein. Der Ausrichter, die Pariser Zeitung „Le Matin“, blies das Rennen deshalb ab. Doch wo die wenigen Gentlemen schon einmal versammelt waren, starteten sie dennoch am 10. Juni.

Genau zwei Monate später – durch Gebiete, in denen Autos völlig unbekannt waren und deshalb blankes Entsetzen hervorriefen – traf der italienische Fürst Scipione Borghese mit seinem Itala 35/45 (7,5 Liter, 45 PS) und seinem dreiköpfigen Team bestehend aus Mechaniker, Chauffeur und einem Journalisten unter Begeisterungsstürmen in Paris an.

So hart das Rennen auch war, alle Teilnehmer überlebten es – ein Team allerdings nur knapp, weil es in der Wüste Gobi nach einer Panne von Nomaden gerettet wurde. Es ist vielleicht ein weiteres Zeugnis des damaligen Rennfahrergeistes, dass man nach dieser Tortur eines tat: ein weiteres Rennen für das nächste Jahr anberaumen. Diesmal westwärts von New York über Wladiwostok nach Paris. „Die Welt“ nannte es in einem Artikel vor einigen Jahren äußerst treffend „Die Mutter aller Autorennen“. Keine Übertreibung: Bis heute ist es das längste Rennen aller Zeiten.

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