Wenn es um klangvolle Namen für neue Fahrzeugtechnologien geht, macht den chinesischen Herstellern so schnell niemand etwas vor. Ein aktuelles Beispiel liefert BYD mit dem vielsagenden Namen „God’s Eye“ für sein System autonomer Fahrfunktionen. Das „Auge Gottes“? Respekt. Diese Bezeichnung suggeriert fast schon übermenschliche Fähigkeiten. Während Mercedes seinen Assistenten zurückhaltend „Drive Pilot“ nennt und sogar Tesla sich mit „Autopilot“ bzw. „Full Self-Driving“ (FSD) vergleichsweise dezent zeigt, geht BYD voll in die Offensive – Bescheidenheit klingt anders. Doch hält das System auch, was der Name verspricht?
Drei Varianten für unterschiedliche Fahrzeugklassen
Zunächst ist wichtig: God’s Eye ist in drei Stufen erhältlich.
Die Basisversion God's Eye C (DiPilot 100) arbeitet mit zwölf Kameras – drei vorne hinter der Windschutzscheibe, fünf für die Panoramasicht und vier für die Rundumsicht. Ergänzt wird das System durch fünf Millimeterwellen-Radarsensoren sowie zwölf Ultraschallsensoren. Die Datenverarbeitung übernimmt der DiPilot-100-Chip mit einer Rechenleistung von 100 TOPS (Billionen Rechenoperationen pro Sekunde), bereitgestellt von Nvidia Orin N und dem chinesischen Anbieter Horizon Robotics (Journey 5). Wie Tesla verzichtet BYD in dieser Ausführung auf teure LiDAR-Sensoren. Zum Einsatz kommt dieses Setup beispielsweise im BYD Seagull – in Deutschland als Dolphin Surf vermarktet – sowie künftig auch im Atto 3.
LiDAR und High-End für Premiummodelle
Die mittlere Ausbaustufe God’s Eye B (DiPilot 300) nutzt bereits LiDAR-Technik. Sie kommt mit einem Nvidia Orin-X-Chip für erweiterte Rechenleistung, was komplexere Manöver – insbesondere im urbanen Umfeld – ermöglicht. Vorgesehen ist sie für Fahrzeuge der BYD-Premiummarke Denza sowie für die Dynasty- und Ocean-Serien. Die Topversion God’s Eye A (DiPilot 600) hingegen ist für Luxusfahrzeuge wie den Yangwang U9 oder das schwimmfähige SUV U8 reserviert. Drei LiDAR-Sensoren, zwei Orin-X-Chips und 600 TOPS sorgen hier für maximale Leistung. In einem PR-Video demonstrierte BYD, wie der Yangwang U9 autonom und ohne Fahrer eine Rennstrecke umrundet.
Xuanji AI – das neuronale Rückgrat
Hinter God’s Eye steht die sogenannte Xuanji-Architektur – eine eigens entwickelte KI-Plattform, die Fahrzeug, Umgebung und Fahrer in Echtzeit analysiert. Die Architektur basiert auf multimodaler künstlicher Intelligenz, die Sensor-, Bild- und Sprachdaten innerhalb von Millisekunden verarbeitet. Über 300 Fahrszenarien wie Wetter, Verkehr oder Parkvorgänge kann das System erkennen und entsprechend handeln. Durch Cloud-Anbindung und Over-the-Air-Updates (OTA) bleibt die Software stets aktuell.
Software-Entwicklung in Eigenregie
BYD entwickelt seine ADAS-Systeme selbst. Rund 5.000 Ingenieure arbeiten an den autonomen Fahrfunktionen, die durch Chinas großzügigere Zulassungsregeln beschleunigt weiterentwickelt werden können. Die täglich gesammelten 72 Millionen ADAS-Trainingskilometer fließen in Chinas größte automobile Cloud-Datenbank ein – eine strategische Stärke, wie CEO Wang Chuanfu betont. Für BYD spielt autonomes Fahren auch bei Kompaktmodellen eine zunehmend wichtige Rolle.
Der Alltagstest findet in einem BYD Seagull alias Dolphin Surf statt – an einem verregneten Tag in Xi’an. Kein ideales Wetter für kamerabasierte Systeme. Der städtische NOA-Modus („Navigate on Autopilot“) bleibt wegen dichten Verkehrs zunächst deaktiviert. Auf der Autobahn ist es dann soweit: Per Schaltwippe am Lenkrad wird God’s Eye aktiviert – sichtbar durch türkis leuchtende Dioden an den Außenspiegeln. Das System übernimmt – ähnlich wie bei Nio NOP+ – die Steuerung anhand einer zuvor im Navi definierten Route.
Beeindruckende Fahrleistungen auf Level 2,5
Obwohl BYD das System offiziell als Level 2,5 einstuft, fährt der Dolphin Surf streckenweise völlig autonom. Spurwechsel erfolgen selbstständig, Hindernisse werden erkannt und sicher umfahren, selbst Vollbremsungen bei 100 km/h funktionieren zuverlässig. Der Wagen fährt bis zu zehn Minuten am Stück autonom, bevor der Fahrer durch rote Warnanzeigen aufgefordert wird, wieder zu übernehmen. Besonders überzeugend: Selbst bei komplexen Spurwechseln oder abrupt einscherenden Fahrzeugen reagiert das System ruhig und vorausschauend. Die maximale Geschwindigkeit liegt bei 130 km/h.
Auch Ausfahrten werden zuverlässig erkannt und frühzeitig eingeleitet. Das Fahrzeug sortiert sich von links nach rechts ein, nimmt die Kurve souverän und reduziert dabei sanft das Tempo. Erst bei der Annäherung an die Mautstation deaktiviert sich das System automatisch.
Parken? Kein Problem – sogar per Smartphone
Auch beim Einparken zeigt sich God’s Eye von seiner cleveren Seite: Der Dolphin Surf parkt selbstständig in enge Lücken – auf Wunsch auch ferngesteuert über das Smartphone. Dank OTA-Update kann das System demnächst auch vorwärts einparken. Funktionen für autonomes Fahren in der Stadt sollen ebenfalls bald folgen.
Wann und wie God’s Eye offiziell nach Europa kommt, ist aktuell noch unklar. Die rechtlichen Rahmenbedingungen bremsen BYD hierzulande (noch) aus. Technisch ist man allerdings schon jetzt erstaunlich weit – und nicht nur Tesla sollte aufhorchen.
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