Manchmal kommt man zu einem neuen Auto wie die berühmte Jungfrau zum Kind. Richard Göbel kann davon ein Lied singen. Eigentlich befand er sich nur auf der Suche nach einem Ersatzteilspender, als er bei einer Besichtigung zufällig auf einen Wartburg 353 in der Kombivariante aufmerksam wurde.

Hand aufs Herz: Wann habt Ihr das letzte Mal einen Wartburg in freier Wildbahn gesehen?

Was wir heutzutage „T-Modell“, „Avant“ oder „Variant“ nennen – oder bei BMW auch „Touring“ – hieß in der damaligen DDR „Tourist“. Ein praktischer, alltagstauglicher Kombi mit Platz für Personen und Gepäck und Spaltmaßen, wo das Schwarzbuch des Steuerzahlerbundes locker durchpasst. Wer einmal das Vergnügen hatte, den Abgasen eines vorbeifahrenden Wartburg hinterherzuschnüffeln, erinnert sich sofort an den süßlichen Duft, der in typischer Zweitakt-Manier in pulsartigen Schwaden das peitschenförmige Endrohr verlässt.

Richard erlöste den DDR-Kombi aus seinem Dornröschenschlaf

Schalten wir nun das Kopfkino wieder aus und verfolgen weiter die Geschichte von Richards Scheunenfund. Der Wartburg 353 Tourist fristete sein tristes Dasein ohne Motor und mit offenen Fenstern auf einem Heuboden auf seine Erlösung wartend. Der Tacho hatte 9.700 Kilometer auf der Anzeige und den Zustand würde Richard heute als gut und erhaltungswürdig bezeichnen. Ursprünglich sollte der Wagen im Familienbesitz bleiben, mit einigem Geschick gelang es dem Berufs-Busfahrer jedoch, ihn „für lau“ zu erhalten.

Cruisen statt rasen: Die Motortechnik blieb im Originalzustand

Am Antrieb änderte Richard nichts. Nach wie vor verrichtet der Dreizylinder-Motor mit 50 PS und original DDR-Elektronik, Jikov-Vergaser und 1 Liter Hubraum seinen Dienst. Am Auspuff glänzt ein Edelstahl-Endrohr und das 4-Gang-Getriebe wird per Lenkradschaltung sortiert.

Ein Höchstmaß an Individualität: TA Technix lieferte das Citroen-Fahrwerk 

24 Bilder Fotostrecke | Wie geil ist das denn?: Babyblauer Custom Wartburg 353 Tourist als Tuning-Eyecatcher #01 #02 Für einen Wartburg gestaltet sich die Ersatzteilversorgung verständlicherweise schwierig. Noch aufregender wird es, wenn man als Tuner Hand am Auto anlegen möchte. Hier ist ein Höchstmaß an Individualität gefragt. In Sachen Fahrwerk stellten sich Teile von TA Technix, ursprünglich für den Citroen Saxo gedacht, als optimal nutzbar heraus. An der Vorderachse sind sie gekürzt, hinten kommen sie in Originallänge zum Einsatz. Der Spruch, den ein Berufs-Busfahrer wie Richard nun garantiert nicht mehr zu hören bekommt, lautet: „Der ist ja so hoch wie ein Bus!“

Nicht überall, wo BBS dransteht, steckt auch BBS drin

Dank Lochkreisadaptern, die zwischen dem 4x160er Lochkreis und dem üblicheren 4x100er Maß vermitteln, konnte Richard bei GTP Wheels einkaufen gehen. Die sehen zufällig aus wie BBS-Felgen, messen 7,5 Zoll in der Breite und 17 Zoll im Durchmesser und das bei einer Einpresstiefe von 35 Millimetern. Der Stern ist anthrazitfarben gepulvert, die Betten hochglanzpoliert. Dazu lieferte der Reifenhändler einen Satz Nankangs in der beliebten Größe 185/35 R17. Zwecks Freigängigkeit wurden die Radlaufkanten an der Vorderachse angelegt. Eine Lackiererei in Tschechien spritzte einen original DDR-Lack auf den restaurierten Wartburg-Body.

Multi-Kulti: Tschechische Lackkunst und ungarischer Tacho im DDR-Kombi

Für den Innenraum besorgte der Wartburg-Schrauber originale Sondersitze und ließ die Verkleidung nach originaler Vorlage anfertigen. Ein tschechisches Sportlenkrad aus einem Rallye-Trabant steckt auf der Lenksäule. Das für den ungarischen Markt produzierte Kombiinstrument verfügt über eine Anzeige bis 160 km/h, einen Drehzahlmesser und eine Anhänger-Blinkkontrolle, die es laut Besitzer nur ein Jahr lang in Serie verbaut gab.

Top, die Wette gilt

Zieht man den rund sechsmonatigen Aufenthalt beim Lackierer ab, hat Richard sein Wartburg-Projekt in nur fünf Monaten über die Bühne gebracht. Als Motivation diente eine Wette mit seinem Schwiegervater um eine Kiste Bier. Am Tag vor dem Internationalen Trabant Treffen 2022 in Anklam war er mit der Schrauberei fertig: „Das war um 20 Uhr abends. Am nächsten Tag um 4 Uhr morgens bin ich Richtung Anklam gestartet.“ Das Ergebnis kann sich sehen lassen, findet Ihr nicht auch?

Technische Daten

Fahrzeugtyp: Wartburg 353 Tourist

Baujahr: 1980

Motor: 1000 ccm, Dreizylinder-Motor, Zweitakter, Jikov Vergaser, offener Luftfilter, 50 PS

Auspuff: original mit Edelstahl-Endrohr

Kraftübertragung: original 4-Gang-Getriebe mit Lenkradschaltung

Räder: rundum GTP-Wheels in BBS-Optik, 7,5x17 ET 35, Stern anthrazitfarben gepulvert, Betten poliert

Reifen: Nankang in 185/35 R17

Bremsen: original, vorne Scheibenbremsen, hinten Trommelbremsen

Fahrwerk: TA Technix Dämpfer vom Citroen Saxo, an der Vorderachse gekürzt

Karosserie: restauriert und repariert, Radläufe an den Kotflügeln umgelegt, originale Scheinwerfer und Rückleuchten mit Chromrand

Innenraum: Tschechisches Sportlenkrad aus einem Rallye-Trabant, ungarisches Kombiinstrument mit Drehzahlmesser, Tacho bis 160 km/h in schwarz und Anhänger-Blinkkontrolle, DDR-Zubehörschalthebel, Wartburg Sondersitze, neuer Teppich und neue Verkleidungen